Der Elfenbeinturm und die Zivilgesellschaft [1]
Regierungsinstitutionen haben im letzten Jahrhundert einen spektakulären Effekt in bezug auf die Förderung des Hochschulwesens gehabt. Angetrieben von einer Vielfalt politischer Ziele und Annahmen wie militärischer Kompetenz, Nationalstolz, liberaler Überzeugung gegenüber dem Einfluss der Hochschulbildung, aber vor allem von der Erwartung, dass in den nächsten Jahrzehnten möglicherweise die Hälfte der Arbeitsplätze in den post-industriellen, turbo-kapitalistischen Wirtschaftsystemen eine Mindestausbildung von 16 Jahren beanspruchen werden, haben Regierungen aller Art und auf allen Kontinenten stark in das Geschäft der Hochschulbildung investiert. Der gewaltige Aufschwung in der Anzahl der staatlich geförderten Studenten an verschiedenen Orten dieser Welt, hat sicherlich zu dem Eindruck verholfen, dass es eine weltweite Entwicklung des Hochschulwesens gibt. Warum das so ist, ist auch allgemein verständlich. In den letzten Jahrzehnten ist die Gesamtzahl der Hochschulstudenten weltweit exponentiell gestiegen – von 51 Millionen 1980 auf 82 Millionen im Jahre 1995, ein Anstieg um 61 Prozent. Heute ist bereits die 90-Millionen-Marke überschritten worden. Die Mehrzahl dieser Studenten konzentriert sich in den reicheren OECD-Ländern, in denen ungefähr die Hälfte der 18-23-jährigen in einer Form von Hochschule eingeschrieben ist. In einigen OECD-Ländern vollzog sich der Wandel besonders zügig. Seit 1977 ist die Anzahl der deutschen Hochschulstudenten um 80 Prozent gestiegen; ein ähnliches Muster der Entwicklung lässt sich auch in Frankreich erkennen, wo die Zahl der Hochschulstudenten von weniger als 150.000 im Jahre 1955, heute auf eine Rekordzahl von 2,2 Millionen angestiegen ist. Ähnliche Trends zeigen sich außerhalb des Blocks der reichen OECD-Staaten, sie sind jedoch ungleichmäßig und befinden sich in ständigem Wandel. In den letzten 25 Jahren hat sich die Zahl der Hochschulstudenten in Saudi Arabien um mehr als das zwanzigfache vervielfacht; die Zahl der Universitätsstudenten im Iran hat sich seit dem Sturz des Schahs verdreifacht; ambitionierte Expansionsprogramme wurden in vielen Ländern Südostasiens eingeleitet, und 20 Staaten, davon die Hälfte in sogenannten Entwicklungsländern, rühmen sich nun einer Anzahl von mindestens einer Million Hochschulstudenten. [2]
I. Hochschulen und Globalisierung
Das Image des Hochschulwesens in seiner »globalen« Wirkung wird von einer weiteren Entwicklung bestätigt, die noch konsequenter und bemerkenswerter ist: der qualitativen Zunahme der grenzüberschreitenden Verbindungen der Bildungsbranche, deren Einrichtungen möglicherweise »weltlicher« als die jeglicher anderen Institutionen sind, die turbo-kapitalistischen Unternehmen eingeschlossen.[3] Die nach außen gerichtete Universität ist nichts Neues. Die Entscheidung von Thomas Jefferson 1824, Fakultätsmitglieder aus Deutschland zu rekrutieren, um an der Universität von Virginia zu unterrichten, dient der Erinnerung daran, dass der Trend eine lange und angesehene Vorgeschichte hat. Wir jedoch leben in einer Zeit der beispiellosen Globalisierung des Hochschulwesens. Überall gibt es Zeichen, dass nach innen gerichtete Strategien im Hochschulbereich unproduktiv gewesen sind und sogar zu organisatorischer Stagnation oder auch zum Rückgang führten, was selbst Lehrbeauftragte, Verwaltungsangestellte und auch Studenten akzeptieren. Was sind die Hauptindikatoren dieses Trends? Organisationen wie die UNESCO verfechten das Anliegen, das Hochschulwesen weiterzuentwickeln und Hochschulbildung auf globaler Ebene universal erreichbar zu machen.[4] Die Rolle des Gastgebers wird von der Hochschul-Industrie auf Tausenden von jährlichen Konferenzen, an Forschungsinstituten und bei Unterrichts- und Verlagsprogrammen eingenommen – und dies in einem Ausmaß, bei dem es nicht überrascht, dass Hochschuleinrichtungen die Epizentren einer energisch, weltweit geführten Globalisierungsdebatte bilden. Überdies sind unterschiedliche Vorgehensweisen und Strategien entworfen worden, um Verträge, Studenten und Ansehen innerhalb der globalen Zivilgesellschaft zu gewinnen. Mit verschiedenen Projekten sollen Wissenschaft, Sprachen, Technologie, Business-Methoden, Unterrichtsfertigkeiten, sowie grenzüberschreitende persönliche und professionelle Kontakte aufgebaut werden. Ein prominentes Beispiel hierfür ist »Universitas 21«: Es wurden Pläne angekündigt, in Kooperation mit Thomson, einer kanadischen elektronischen Verlagsgruppe, eine globale Online-Universität einzurichten, die von der University of Melbourne geleitet werden soll, um Akkreditierungsschemata zu betreiben und externe Prüfer innerhalb eines Netzwerks großer öffentlicher Universitäten mit ähnlichen Profilen in Australien, Neuseeland, Kanada, USA, Singapur und Großbritannien zu teilen. [5] Andere bemerkenswerte Beispiele sind Projekte wie ERAMUS und SOCRATES, die bislang mehr als einer halben Millionen Studenten der europäischen Union während ihres Studiums zu einem Auslandsaufenthalt in einem anderen Mitgliedsstaat verholfen haben. Mittlerweile gedeihen Aufnahme-Deals á la McDonald’s.[6] Man bemüht sich, Qualifikationen zu internationalisieren. Pionierarbeit wird geleistet für gemeinsame Lehrgänge; Leistungsnachweise werden gesammelt und ins Ausland transferiert.
Es ist offensichtlich, dass diese und andere Projekte durch revolutionäre Entwicklungen im Bereich der Kommunikation, vor allem durch das Internet, die Propolis des Hochschulwesens, hervorgerufen wurden. Die Realität des Hightech ist im Hochschulwesen eingezogen – die virtuelle Universität ist ihr vorläufiges Meisterwerk. Es gibt eine anhaltende Zunahme von Institutionen, die virtuelle Abschlüsse anbieten: In den Vereinigten Staaten haben 1998 über 300 Hochschulen und Universitäten Online-Kurse an mehr als 700.000 Cyber-Studenten angeboten. Drei Jahre später hat die Anzahl der tertiären Studenten, die in e-Ed-Kursen eingeschrieben waren, 2,3 Millionen erreicht, eine Entwicklung die von Unternehmen wie »Blackboard.com«, »Campuspipeline.com« und »Global Knowledge Network« vorangetrieben wurde. Ein zukünftiges Wachstum scheint möglich, besonders weil der Lehrstuhl davon profitieren kann – Unternehmen wie Unext, Harcourt-Brace und Thinkwell unterbreiten der akademischen Belegschaft attraktive finanzielle Angebote – und bieten ihr, weil das Fernstudium ein effektives (und eventuell profitables) Mittel ist, Umschulung und Aufbaukurse ohne aufwändiges Fahren bzw. beeinträchtigende Unterbrechung des Arbeitslebens.
Die auffälligste und konsequenteste Entwicklung ist wahrscheinlich aber der breite Anstieg der Studenten, die derzeit ihr Gepäck packen, um sich im Ausland auf die Suche nach verbesserten Qualifikationen zu machen. Mitte der neunziger Jahre waren über 1,5 Millionen ausländische Studenten, die Hälfte davon kam aus Entwicklungsländern, in Hochschulen von etwa 50 Gastgeberstaaten eingeschrieben. Die grenzüberschreitende Mobilität der Studenten ist in den letzten 25 Jahren um 300 Prozent gestiegen und manche Beobachter vermuten, dass es ein anhaltend massives Wachstum in den nächsten 25 Jahren geben wird. [7] Das Bild dieses Prozesses ist natürlich verzerrt, so dass mehr als drei Viertel der Auslandsstudien in zehn Gastgeberstaaten stattfinden; an erster Stelle [8] stehen hier die Vereinigten Staaten (mit über 30 Prozent aller Studenten, die im Ausland studieren), Frankreich (über 11 Prozent), Deutschland (ungefähr 10 Prozent), Kanada und Belgien (jeweils weniger als 2,5 Prozent) sowie die Schweiz (ungefähr 2 Prozent). Insgesamt sind die Trends jedoch ebenso beeindruckend wie neue Initiativen, so in der Volksrepublik China, wo in den letzten Jahren die Anzahl der im Ausland studierenden Studenten am deutlichsten gestiegen ist.
II. Der Elfenbeinturm?
Für manche Beobachter spiegeln all diese Trends, besonders die Zunahme der studentischen Mobilität im globalen Maßstab, eine wichtige Erneuerung und Universalisierung der ursprünglichen Mission des universitas wider. Diese Beobachter machen darauf aufmerksam, dass die gründende Mission des Hochschulwesens in der mittelalterlich-europäischen Praxis die studia generalia war. In ihrer Suche nach Wissen wanderten Studenten von Bologna über Paris, nach Salerno (vielleicht die erste europäische Universität, die im 9. Jahrhundert vor Christus gegründet wurde), nach Edinburgh und Oxford – und auch in die viel früheren islamischen madrasah Hochschulen, wie die in Buchara, Kairo, Damaskus, Hillah und Timbuktu, die Studenten von nah und fern anlockten. [9] Im frühesten Entwicklungsstadium Europas stellte die Universität eine wissenschaftliche Zunft dar, die analog zu Handelsgilden und den Gilden von Ausländern in fremden Städten geformt wurde.[10] Die universitas setzte sich zum Großteil aus ausländischen Hochschulstudenten zusammen; sie wurde in dieser Form gebildet, um ihre Mitglieder vor der zivilen und päpstlichen Obrigkeit, vor der Erpressung von Stadtbewohnern und vor anderen Belästigungen zu schützen, die mit dem Leben in einem fremden Land und dem Studium von Fächern, die nicht an klösterlichen und kirchlichen Schulen angeboten wurden, verbunden waren. Die gleichen Beobachter sehen nun diese historische Entwicklung in der Gegenwart wieder und loben daher das Wachstum der Mobilität der Hochschulstudenten, was einer großen Anzahl von Studenten ein Gefühl vermittelt, das früher nur einer Handvoll der privilegierten Elite vorbehalten war: die Erfahrung des Hochschulwesens als einem »Elfenbeinturm«, als modernes Äquivalent des römischen eboreum, als ein exotischer Platz der zeitweiligen Zurückgezogenheit bzw. des Rückzugs aus der rauen Realität der Welt.
Das Image des kosmopolitischen Elfenbeinturms hat zugegebenermaßen einen sehr verführerischen Charme. Denken wir einen Moment in Stille an die Kaiser-Friedrich-Wilhelm-Universität, die 1809 in Berlin unter dem Rektorat von Johann Gottlieb Fichte gegründet wurde: ein Ort der Lehre, der das deutsche Kulturleben während des 19. Jahrhunderts regenerierte. Zu bewundern ist auch der Mut in Kants »Der Streit der Fakultäten« (1798), in dem er für eine philosophische Fakultät sprach, »die in bezug auf Lehrtätigkeiten unabhängig von der Befehlsgewalt der Regierung sein soll; etwas, das keine Befehle zu geben hat, hat auch die Freiheit, alles unabhängig zu bewerten und kann sich mit den Interessen der Wissenschaft, d.h. mit der Wahrheit, offen auseinandersetzen: einer Wahrheit, in der es dem Verstand erlaubt ist, sich öffentlich zu äußern.« [11] Oder machen wir einen Spaziergang durch den Innenhof und durch den hinteren Teil des King’s College in Cambridge. Treten wir in die mit Spiegeln versehene, weltraumähnliche Bibliothek des wunderschönen Campus der University of California in San Diego, der am Ozean liegt und mit Eukalyptusbäumen getupft ist. Setzen wir uns in die mit Fresken versehene Bibliothek der ältesten Universität in Bologna. Sind dies unzweifelhaft Orte des universalen Wissens? Räume der persönlichen Selbstentdeckung, emanzipiert von den Lasten des »Brotstudiums« – dem Studium um der Karriere willen – und dennoch offen für ein unvoreingenommenes Streben nach Wahrheit? Schauplätze, wo (wie Karl Jaspers es formulierte) »Menschen keine Verantwortung für die momentane Politik haben, genau weil diese die unbegrenzte Verantwortung übernehmen, Wahrheit zu entwickeln«? [12] Sie sind es nicht. Die klassischen Ideale der universitas – das Ideal des unparteiischen Lehrkörpers, der sich dem Lernen und der Lehre hingibt und der vor einer Generation von prominenten Wissenschaftlern wie Ortega Y. Gasset, Karl Jaspers, and Sir Walter Moberly [13] verteidigt wurde – sind hinfällig, da ihre natürliche Umgebung, ein vom Druck der Wirtschaft und Staat befreiter Raum, zerstört wurde.
Unter dem oben beschriebenen Druck innenpolitischer und globaler Kräfte erleiden Fachhochschulen und Universitäten allerorten eine Metamorphose durch Fragmentierung. Die Grenzen der Universität des späten Mittelalters waren klar festgelegt; die Wände und Innenhöfe wendeten sich nach innen, als würden sie Studenten und Lehrer dazu auffordern, der Welt ihre Rücken zuzukehren. Im Gegensatz dazu sind Hochschulinstitutionen heute nach außen gerichtet, im Grunde genommen »global«. Es ist kein Wunder, da sie in viele unterschiedliche Richtungen gezogen und gezerrt werden, bis zu einem Ausmaß, wo es nicht zweckmäßig ist, ja sogar undeutlich wird, ob von einer »Universität« oder von einer »Fachhochschule« zu sprechen ist. Diese Entwicklung lässt sich nun auf keinen Fall als das Wachstum einer »vergorenen Universität« oder einer Mehrzweck »Multiversität« darstellen. [14] Diese Situation zeigt sich als noch komplexer und zerstörerischer. Dank einheimischen und globalen Drucks ist das Hochschulwesen auseinandergezerrt worden, und das in nicht geringem Maße wegen eben jener Globalisierung der Zivilgesellschaft, zu der es selbst beigetragen hat. Die Ideale und die Institutionen des Hochschulwesens leiden an Zersplitterung. Zugleich wird es ein Apparat der nationalstaatlichen, regionalen und transnationalen Macht; ein gewinnsuchendes Marktunternehmen; eine selbstkontrollierende, selbstverwaltende Einrichtung; ein öffentlicher Raum der offenen Debatte und unabhängigen Anfrage; und eine Kraft für kosmopolitische Institutionen und Werte.
So sind es gegenwärtig beispielsweise die Territorialstaaten, die mit den lokalen und regionalen Regierungen um die größere strategische und leitende Kontrolle über die internen Tätigkeiten der Hochschulinstitutionen wetteifern. Im Würgegriff von Übungen zur Qualitätsbeurteilung, Prüfungen und Finanzberichten könnte jemandem vergeben werden, der denkt, dass Universitäten und Fachhochschulen ein integraler Bestandteil von Regierungsapparaten sind. Sie stellen eben nicht mehr den Ort dar, an dem lediglich Wissenschaftler Urteile über andere Wissenschaftler abgeben (Kant). Eine Kultur der Revision breitet sich aus: im Namen der Qualität wird alles der externen politischen Überprüfung und Bewertung unterworfen. In Wirklichkeit wird diese Kultur der Revision nicht nur von finanzpolitischen Einschränkungen und vom Verdacht professioneller Autonomie aufrechterhalten, sondern auch von dem Konkurrenzdruck des Marktes.
Die Wahrheit ist, dass das Hochschulwesen von den Regierungsmächten in die eine Richtung geschoben wird, von den marktgelenkten Kräften des Turbo-Kapitalismus aber in die entgegengesetzte Richtung, zur Zivilgesellschaft, gezogen wird. Für immer verloren sind die Zeiten, in denen (einem alten Witz nach) Akademiker nur in dem Alter einen Lehrstuhl erhielten, in dem sie die Bedeutung des Wortes »irrelevant« vergessen hatten. Dahin ist auch das einst gemeinsame Gefühl unter Akademikern, dass sie außerhalb der Bildungsbranche, in der wahren Welt des »Business« eine bessere Arbeit hätten finden können. Das Hochschulwesen wird zum »Big Business« oder zum Werkzeug des Geschäftemachens. Es wird von Institutionen verlangt, ein 24/7 [15] Unternehmen zu werden, das den eigenen Weg bezahlt: Das Unternehmen muss die eigenen Bücher abstimmen oder sogar Gewinn erzielen. Um ihre Hochschul-»Marke« auf dem globalen Markt zu vermarkten, machen Pressereferenten Überstunden. Studenten entdecken, dass sie für ihre Hochschulabschlüsse (mehr) bezahlen müssen. Forschung, die dafür entworfen wurde Technologietransfers und Patente (»patents, not papers«) hervorzubringen, wird privilegiert. Firmenneugründungen werden von oben ermutigt, das Kapital der Institution – das Wissen – kommerziell auszunutzen, wie beispielsweise in Bereichen der Informatik und Biotechnologie. Akademiker vermarkten sich als Berater. Lehren wird ein verkaufbares Gut und für Studenten in mundgerechte Lernpakete und leicht-zu-öffnende Handouts verpackt.
III. Reaktionen der Hochschulen und ihre Akteure
Viele Hochschulen suchen nach anderen Möglichkeiten. Einige versuchen, sich vor den widersprüchlichen Kräften der Politik und Wirtschaft zu schützen, indem sie strategisch reagieren oder in die Defensive gehen; sie hoffen, dass Versuche der Selbstregulation und Anpassung an die neuesten Methoden des new public management ihre administrative Effizienz und fiskalische Position verbessern, indem sie interne Kontrollen verschärfen und sich aufeinanderfolgende Runden der Reorganisation unterziehen. Solche Maßnahmen der Selbstregulation bewirken des öfteren internen Trübsal – unendliche Besprechungen, Hunderte von E-Mails, Beurteilungen Gleichgestellter, und im allgemeinen einen Verlust professioneller Freiheit in der Wissenschaft sind die Folge. [16] Es gibt aber auch Bereiche im Hochschulwesen, die sich weder auf die Politik noch auf die Wirtschaft festlegen, sondern sich dem Prinzip des zivilen Engagements mit den weniger mächtigen Gruppen und Gemeinschaften der Zivilgesellschaft verschreiben. In den Vereinigten Staaten hat sich seit dem Morrill-Gesetz von 1862 eine lange und ausgeprägte Tradition dieser »Institutionen mit hochgekrempelten Ärmeln« (»institutions with their sleeves rolled up«), wie sie genannt werden) herausgebildet, die staatliche Landzuteilungs-Hochschulen eingeführt haben aber in der letzten Zeit auch neuere Initiativen wie landwirtschaftliche Anbaudienste, die GI Bill, Campus Compact (unterstützt von mehr als 600 Universitäts- und Fachhochschulpräsidenten), und Projekte wie der Democracy Collaborative an der Universität von Maryland in College Park, die sich öffentlich dazu verpflichtet hat »to build democracy and to strengthen community«.[17]
Innerhalb des Hochschulwesens diversifizieren die sich überschneidenden Trends, die Rollen der Studenten und die des Lehrkörpers gleichermaßen, in manchen Situationen geschieht dies bis zu einem Grad der Zusammenhanglosigkeit. Ein Student zu sein bedeutete vor vier Jahrzehnten »sex, drugs, rock n’ roll«, zu randalieren, und wenn man Zeit hatte auch ein wenig zu lesen: Wir nannten dies Studium. In der Atlantikregion sind die heutigen Studenten sozial ausdifferenzierter und sie verschreiben sich mehreren und verschiedenartigen Aktivitäten: sie schlucken zwar immer noch Pillen und verbringen ihre Zeit unter Bettlaken oder in ihren Lieblingsdiscos. Die meisten aber fühlen sich ihren Regierungen und der Parteipolitik nicht zugehörig und machen sich infolgedessen mehr Gedanken über den Sinn des Lebens, über sozial nützliche Arbeit in einer NGO oder über eine Voll- oder Teilzeitarbeit, die genug für das Überleben oder für die Zukunft einbringt.
Was die leitenden Mitarbeiter angeht, ist eine ähnliche Diversifikation zu erkennen. »The university has become the multiversity and the nature of the presidency has followed this change«, bemerkt Clark Kerr. »The president of the multiversity is leader, educator, wielder of power, pump; he is also officeholder, caretaker, inheritor, consensus seeker, persuader, bottleneck [!]. But he is mostly a mediator.« In der neuen Ära des Hochschulwesens ist der Rektor all dies und noch mehr: er oder sie ist darüber hinaus Beauftragter der Regierung, Unternehmensführungskraft, Verkäufer, Politiker, Bürger, Medienstar, Imageberater, Humanist, Realist, Experte in bezug auf Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen, Psychologe, Anwalt, lokaler Patriot, reisender Kosmopolit, Ironiker.
Es erweist sich als schwer, diese Vielfalt von Trends zusammenzufassen, so rätselhaft schwer sogar, dass manche Beobachter veranlasst sind Hochschulwesen als eine »ruinierte Institution« zu bezeichnen. [18] Manche, wie Edward Gibbon, fragen sich sogar inmitten der zusammenfallenden Säulen des ehemaligen großen Römischen Reichs, ob es möglich ist, in den Ruinen zu verweilen, ohne in romantische Nostalgie zu verfallen. Es hat sich ein wachsender Konsens darüber herausgebildet, dass die Möglichkeiten dazu gering sind. Viele sind der Meinung, dass das Paradies verloren ist, dass das Hochschulwesen trotz seiner beispielslosen Ressourcen und Entfaltung orientierungslos bleibt und dass es definitiv nicht imstande ist, sich selbst und andere mit klar artikulierten Zielen wie »Vernunft«, »Wissen« und »Universalismus« zu inspirieren. Darüber hinaus gibt es gewisse Anzeichen der Lustlosigkeit und Melancholie, sogar Flüge der Phantasie, die sich in den selbstberuhigenden langen Anerkennungsapparaten vieler wissenschaftlicher Arbeiten verdeutlichen. Dann wiederum gibt es jene, die sich dem Zugriff anderer entziehen und der Welt den Rücken zuwenden, als würden sie weltliches Versagen als ein Zeichen des Erfolgs und weltlichen Erfolg als Zeichen des Versagens definieren. Sie untersagen denjenigen, die sich auf die Lehre oder auf die Veröffentlichung von Lehrbüchern konzentrieren, eine Anstellung auf Lebenszeit; verbreiten Gerüchte über wissenschaftliche Autoren von kommerziell erfolgreichen »Pop-Büchern«; und degradieren den »Fernunterricht« in Verteidigung des »wirklichen Lernens«, das auf Nähe und Anwesenheit beruht.
IV. Hochschulen in einer multiplen Welt
All diese Reaktionen sind fragwürdig. Sie ignorieren die positiven Implikationen der Fragmentierung des Hochschulsystems: dieses kann nicht weiter vorgeben, in der Sprache der großen Erzählungen von Wahrheit und Wissen sprechen zu können, sondern sieht sich stattdessen mit der Tatsache konfrontiert, dass es eine gespaltene Gemeinschaft verkörpert, die rivalisierende Vorstellungen in bezug auf Erfolg und konkurrierende Institutionen hat, die seine intellektuelle Autorität von außen herausfordern – Think Tanks, Forschungslaboratorien, pädagogische Fernsehkanäle, einen körperschaftlichen Campus, Anbieter von sogenanntem »e-learning« oder »webucation«[19] und andere »knowledge-societies«[20] (aber auch Regierungsinitiativen, wie der »University for Industry«, eine Initiative der Blair-Regierung, die Verträge mit »British Telecom«, der königlichen Luftwaffe, dem Nahrungsmittelkonzern Sainsbury, dem Gewerkschaftsdachverband »Trades Union Congress« und der kürzlich angesagten Initiative Universität für den nationalen Gesundheitsdienst unterschrieben hat). Der Bereich des Hochschulwesens ist in ein Zyklotron der zwiespältigen Hoffnungen und Bedeutungen und Leistungen gestoßen worden – und wird auch dazu gezwungen, mit politischen Problemen zurechtzukommen wie der Handhabung sich multiplizierender und oft auch unvereinbarer Auffassungen der »Realität«.
Jean-François Lyotard, der vom »Conseil des Universités« der Provinz Quebec eingeladen wurde, über den Zustand des Wissens in der westlichen Welt zu berichten, kam in seinem Buch La condition postmoderne: rapport sur le savoir (1979) zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Lyotard, der unter politischer Gleichgültigkeit litt, konnte jedoch nur abstruse Schlussfolgerungen ziehen. »Lassen Sie uns einen Krieg gegen Totalität führen,« schrieb er, »lassen sie uns Zeuge vom Unpräsentierbaren sein, lassen sie uns die Unterschiede aktivieren und die Ehre des Namens bewahren.« Er erkannte nicht, wie nützlich und notwendig die Perspektive einer globalen Zivilgesellschaft ist, um das Hochschulwesen vor dem eigenen Verfall zu schützen. Die Universität ist nicht mehr nur ein exklusiver Ort, an dem sich die selbstbewusste Mittelklasse formiert, symbolisiert durch den unabhängigen Lehrer/Wissenschaftler/Intellektuellen der von der inneren Berufung motiviert ist, alles, was mit der banalen Weltlichkeit zu tun hat und die Vulgaritäten und Verwirrungen der Zivilgesellschaft zu hinterfragen. (Hegels frühe Kritik der Unvernunft der bürgerlichen Gesellschaft ist hierfür ein Beispiel. [21] ) Stattdessen wird die Hochschulbildung eventuell zum Freund und Förderer der globalen Zivilgesellschaft, da prinzipiell beide ein immanentes Interesse an der Förderung und Entfaltung der Strukturen und Ideale des friedlichen Pluralismus haben. Man könnte diesen Punkt zu der Aussage hin zuspitzen, dass das Hochschulwesen potenziell ein Hauptkatalysator und ein Verteidiger der globalen Zivilgesellschaft und ihres Ethos ist. Zu den der globalen Zivilgesellschaft angemessenen Werten zählen Flexibilität und Offenheit, die Bereitschaft zur Bescheidenheit und Achtung anderer, Selbstorganisation, Wissbegier und Experimentierfreudigkeit, Gewaltlosigkeit, friedliche Verbindungen zum Ausland, ein starkes Verantwortungsgefühl für das Schicksal anderer, ja, sogar Verantwortung für die gefährdete Biosphäre, in der wir und unsere Nachkommen zu hausen verdammt sind.
Momentan entsprechen Forschung und Lehre in den meisten Institutionen der Hochschulen nicht den eigenen Ansprüchen und natürlich nicht den Standards der breiteren Welt. Zynismus und Demoralisierung sind weit verbreitet. Überdies ist leider auch noch reichlich von der Art der alten Universitätsarroganz vorhanden, wie sie in der bekannten Geschichte der englischen Frauen dargelegt wurde, die zu Beginn des Ersten Weltkrieges auf dem Land Soldaten rekrutierten. Als sie in Oxford einzogen, lasen sie einem Universitätsdozenten in seiner Oxforder Gelehrtenrobe Schriften des Thukydides im griechischen Original vor. »Und wie tragen sie zur Rettung der westlichen Zivilisation bei, junger Mann?« fragte eine der Frauen. Der Universitätsdozent richtete seinen Körper auf, und meinte hochnäsig: »Madame, ich bin westliche Zivilisation!« Heute leben Graduierte zwischen Arroganz und Demut. Ihnen wird die Kunst des Umgangs mit Vielfalt und Konflikt, der Behandlung von Kontrahenten, der Förderung von Selbstsicherheit und der Mut im Falle des Unerwarteten, des Ungewohnten und des Unbekannten, unzureichend beigebracht. Nahezu jedermann kommt gerade so über die Runden, treibt an der Oberfläche auf und nieder und wird von der Flut der Termine, Mitteilungen, Reisepläne, Tabellen, Geschäftspläne, Forschungsanträge, Veröffentlichungsverpflichtungen, langen Unterrichtswochen, gewaltiger Berge von Aufträgen, deren Frist morgen abläuft und Arbeiten, die am folgenden Tag korrigiert werden müssen, hin und her gespült. Dank seines Ruins kann jedoch das Hochschulwesen (und es beginnt schon damit) der Aufgabe der Selbstprüfung und Analyse der Welt gerecht werden. Dadurch, dass es hin- und hergeschoben und -gezogen wurde, sich mit einem Übermaß an Informationen und konvergierenden Interpretationsrahmen konfrontiert sieht, wandeln sich die Hochschulsysteme in einen Bereich, der »Superkomplexität« erkennen lässt.[22] Die Welt fordert von ihnen, dass sie sich von ihrer metaphysischen Vergangenheit und sogar von Gesprächen über die Republik der Wissenschaft lossagen (oder Träumen von einer öffentlichen Absprache zwischen wissenschaftlich orientierten Industriellen und Finanziers um eine Weltrepublik zu etablieren, wie sie in dem klassischen Traktat The Open Conspiracy [1928] von H.G. Wells dargestellt wurde). Das Hochschulwesen ist gezwungen, zunehmend in Bescheidenheit und zum verantwortungsbewussten Träger eines Bündels von Normen zu werden, die auffallend ähnlich, fast widersprüchlich klingen: die organisierte Infragestellung der Wahrheit; das Bewußtsein, dass unser Leben und die Welt an sich in diversen und unterschiedlichen Weisen interpretiert werden können; die Suche nach kommerziell realisierbarem Wissen; der Widerstand gegen den Kommerzialismus, Verdacht der Ideologien und unabhängige Aussprache gegen Vorurteile; Machthaber kritisieren; Schwache unterstützen; die Ironien des menschlichen Befindens hervorzuheben … und nicht zuletzt den Ethos des Pluralismus ernst zu nehmen und ihm sogar institutionelle Kraft zu geben um das Hochschulwesen und seine Graduierten auf einen Kollisionskurs mit den prinzipiellen Gefahren der globalen Zivilgesellschaft zu schicken.
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